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Freitag, 21. April 2017

Nr. 105 Von "Abstand ... bis ... Abstand"


Liebe Leserinnen, liebe Leser.
Vor ein paar Stunden erst, als ich den heutigen Text noch mal korrekturgelesen habe, da konnte ich nicht ahnen, wie aktuell das heutige Thema sein würde ...

Und wieder ist der Abstand 
ein wenig kleiner geworden.

Je suis humain. Je pense à Paris.


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Treue Trötgedankenleser werden sich möglicherweise schon ein wenig gewundert haben, was denn wohl aus meinem neuen Roman geworden ist? Nun, seit Dezember 2016 ist die Arbeitsfassung fertig! Danach kam es, aus vielerlei Gründen, zu einer (Zwangs-)Schaffens Pause.

Abstand tut gut, denke ich seit einigen Tagen, während ich erneut in den Überarbeitungsmodus gestartet bin. Die geschriebenen Worte kommen einem frisch aber nicht fremd vor, der Kopf hat wieder Platz geschaffen, sodass die Sicht wieder frei ist, für das große Ganze.

Abstand tut gut. Trotzdem hat man sich in der Phase des Abstands verändert. Wie zum Beispiel nach dem Attentat in Berlin, im Dezember 2016.

An das Attentat wurde ich wieder erinnert, als am letzten Sonntag der, wegen besagtem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt, verschobene Tatort letztendlich ausgestrahlt wurde. Auf der Seite von Wikipedia kann man, sofern einem wirklich danach sein sollte - auf einer Liste »ausgewählter« Anschläge dieser Welt , vom 19. Dezember 2016 bis April 2017 - rund 27 weitere Anschläge nachlesen. Am 19. Dezember 2016 sind gar insgesamt drei Stück aufgelistet.


Während ich am letzten Sonntag noch darüber nachdachte, ob mir gerade tatsächlich »auch noch« nach der fiktionalen Umsetzung eines Anschlags war, musste ich wieder an den Abend des 19. Dezember zurückdenken, als der weltbeste Mann nach der Arbeit noch schnell meinen Roman ausdrucken ließ – um die Ecke vom Anschlagsplatz. Eine Woche zuvor, hatten wir, einen Steinwurf von dort entfernt, unseren ersten Glühwein der Adventszeit genossen.

Nach dem Anschlag auf dem Bostoner Marathon im Jahr 2013, hatte es schleichend angefangen und sich beim Anschlag im Bataclan in Paris verstärkt, bis der Anschlag auf dem Brüsseler Flughafen es bei mir wohl (endgültig) ins Rollen gebracht hat. Den Gedanken, man könnte sich tatsächlich plötzlich mittendrin befinden – im Sinnlos-Hasserfüllten-Gotteskrieg. Seitdem ... scheinen sie nicht mehr abreißen zu wollen, die schlechten Nachrichten der Welt – vor der eigenen Haustür. Und plötzlich wird mir klar, jeder hart erarbeitete Abstand, zu jeder einzelnen Tat, mit dem man sich aufs Neue wieder in den eigenen Alltag begibt – verändert. Ich habe mich verändert.




Wenn ich früher das Thema »Selbstmordanschlag oder Attentat oder Amoklauf«, noch versucht hatte fatalistisch zu sehen - «Wenn es passiert, kann ich es eh nicht ändern« - kam irgendwann, plötzlich und mindestens genauso erschreckend – die Zeit der panikartigen Schweißausbrüche.

Wie jeder andere auch, fahre ich viel mit der U-Bahn, mit der S-Bahn, ich bewege mich durchs Leben und plötzlich, scheint »einfach« alles möglich zu sein. Auch all die Entgleisungen, die »nur« etwas mit dem Hass auf sich selbst und/oder die Menschheit zu tun haben. Möglicherweise gibt jemand »völlig ohne Glaubensauftrag« an einer Straßenecke einfach Gas, nur um in eine Menschenmenge zu fahren. Oder wie kürzlich in Amerika, als ein Täter (mal wieder) live über Facebook einen Mord begangen und gestreamt hat ...

Die Sucht nach Aufmerksamkeit gepaart mit unseren heutigen, medialen Möglichkeiten, scheinen »labile Gemütszustände« noch um einiges zu potenzieren.

»Eine neue Dimension der Anschläge hat uns erreicht«, ein Satz, der so groß klingt, wie in der Werbung. Fürchterlich-Wahr. Apropos Werbung, haben Sie von der E-Mail gelesen, die »Adidas« an die diesjährigen Marathonläufer in Boston, mit folgendem Satz in der Betreffzeile verschickt hatte:  »Glückwunsch, Sie haben den Boston-Marathon überlebt!«

Kein Wunder, dass es daraufhin einen Shitstorm gegeben hat. Oder war es gar ein wohldurchdachter PR-Clou? Laut »Adidas« hätte man zu wenig über diese unsensible Betreffzeile nachgedacht.  »Krank« oder bloß eine weitere, neue Dimension, mit so etwas wie einem Anschlag umzugehen? Sollte man sich in den heutigen Zeiten möglicherweise sogar ganz bewusst in einen schwarzen Humor retten?

Oder haben die Autoren besagter Mail womöglich bereits zu viel Abstand?

So oder so ... diese Zeiten verändern uns.

Dabei, das wird mir erst in den letzten Tagen so richtig bewusst, begleitet mich dieses Gefühl der »Ohnmacht« bereits seit etlichen Jahren – als ich mal am helllichten Tag vor meiner Haustür in Berlin überfallen worden bin. Ich weiß also, wie es sich anfühlt, wenn zwei Leben sich kreuzen und der andere – scheinbar spontan – entscheidet, in das eigene Leben eingreifen zu wollen. Seitdem versuche ich noch viel bewusster, »alles« im Blick zu haben. Auch mein Leseverhalten hat sich mit der Zeit verändert. Neuerdings erregen Artikel im Netz meine Aufmerksamkeit, in denen man zum Beispiel nachlesen kann, was am besten zu tun sei, wenn man sich einer Messerattacke ausgesetzt sieht. Oder wie man sich vermeintlich am besten verhalten sollte, wenn man in einen Amoklauf geraten ist, kurzum – wenn es um Leben und Tod geht. »Schöne neue Welt«. Unsere Welt.

Es hat sich in unsere Köpfe und Herzen gefressen – es gehört zu uns.




Und dann, als ich heute früh joggen war, bemerkte ich plötzlich diesen Mann. Er stand auf dem untersten Treppenabsatz meiner »Abschluss-Treppe« und rieb mit der Hand über ein Handy, was per se natürlich nichts Ungewöhnliches war. Und so startete ich die obersten Treppenstufen einer wirklich langen Treppe, lief Stufe für Stufe hinunter, da bemerkte ich aus den Augenwinkeln heraus, dass er das Handy – ein Gerät aus der bereits schon etwas älteren »Apfel-Reihe« – plötzlich ganz bewusst und gut sichtbar auf einem Mauervorsprung ablegte, sich daraufhin abwandte und einfach wegging. Da entdeckte ich den Rucksack, den er auf dem Rücken trug, die komplett schwarze Kleidung und seinen starren Gang. Während meine Beine mich weiter die Treppe hinunter trugen, fing es in meinem Kopf sofort zu rattern an ... Hatte er das Handy im Gras gefunden und es deshalb dort abgelegt? Oder war es sein Handy, er hatte ein paar Meter zuvor etwas vergessen und das Handy deshalb nur kurz abgelegt? Neee, wer macht denn so was, ratterte es weiter in meinem Kopf. Oder hatte er es aus einem Akt der »Nächstenliebe«, so wie zum Beispiel Pfandflaschen, »zu Verschenken« abgelegt? Und dann, während ich weiter stoisch-zackig darauf zulief, konnte ich nur noch an EINES denken:

Hoffentlich explodiert nichts, genau auf meiner Höhe.

Es wär ja auch zu schade um den Kaffee gewesen, auf den ich mich schon die ganze Zeit gefreut hatte ...

Abstand härtet ab. Laufen auch.

I survived Friedrichshain.




Schlafen sie gut ...;-)

Ihre

Jana Hora-Goosmann


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